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Die Kunst des Zuhörens – eine verlernte Superkraft ODER immer auf Sendung, nie auf Empfang

„Zuhören ist eine Frage der Entscheidung, dass man sich keine Sorgen machen muss, was man als Nächstes sagen soll.“ Monica Bill Barnes

Schon Aristoteles wusste um die erstaunlichen Sinngebungen, die sich die Evolution für uns Menschen überlegt hat: “Die Natur ist der beste Künstler von allen.“ So gab sie uns Augenlider, um die Augen schließen zu können. Eine entsprechende Struktur, um unsere Ohren zu verschließen, gibt es hingegen nicht. Man darf sich sicher sein, dass sich die Evolution etwas dabei gedacht hat. Zuhören spielt eine entscheidende Rolle für unser Über- und Zusammenleben. Daran ändert auch die weit verbreitete Meinung nichts, in einer Kultur voller Existenzängste und wutbeladener Selbstdarstellung leise zu sein, gleichbedeutend ist, mit in Rückstand zu geraten oder etwas schlichtweg zu verpassen. Nichts könnte jedoch abwegiger sein, als der Befürchtung Beachtung zu schenken, Zuhören sei lediglich eine verpasste Möglichkeit, die eigene Marke in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und sich auf diese Weise nachhaltig zu profilieren.

Das Gegenteil ist der Fall. Zuhören bringt Verständnis. Es lässt uns mehr als jede andere Aktivität am Leben teilhaben, weil es hilft, uns (im besten Fall) selbst so gut zu verstehen, wie die, die mit uns reden. Studien belegen, dass die menschliche Stimme beim Zuhören in uns eintaucht und Menschen physisch wie auch emotional eindrücklich zu bewegen vermag.

Was jedoch nachdenklich stimmt, ist, dass sich nicht nur die Umstände für Zuhören vollends geändert haben, sondern damit einher geht, dass die eigentlich in uns schlummernde Fähigkeit des Zuhörens immer mehr verödet. Vorbei sind die Zeiten, in denen man gemeinsam auf einer Veranda saß und sich Geschichten erzählte. Mal ehrlich? Wann hast du dich das letzte Mal an einen Gartenzaun gelehnt und hast zu einem Schwätzchen eingeladen?
Wir übersehen einander bewusst oder unbewusst im Fahrstuhl, posieren glamourös auf Instagram und verlieren uns im blauen Leuchten unseres Computers oder TV-Bildschirms. Und kommt es dann doch mal zu einer Gelegenheit, einander zuzuhören und jemand teilt eine Geschichte, die länger als eine halbe Minute dauert, dann senken wir routiniert unseren Kopf, allerdings nicht, um über das Erzählte nachzudenken, sondern um im Smartphone nachzuschauen, ob wir etwas Wichtigeres verpasst haben. Kurzum: Zuhören ist durch die Möglichkeit ersetzt worden, jeden auszuschließen, vorallem diejenigen, die anderer Meinung sind als wir oder nicht schnell genug auf den Punkt kommen.

Dabei wäre es so wichtig, der vergessenen Kunst des Zuhörens mehr Beachtung zu schenken. Ganz gewiss ist echtes Zuhören anstrengend, nicht zuletzt, weil man sich bewusst machen muss, dass es dabei NICHT um einen selbst geht. Das Schwierigste am Zuhören ist es, dem Drang zu widerstehen, den eigenen Standpunkt einzubringen, anstatt nur das aufzunehmen, was das Gegenüber sagt oder auch nicht sagt. Die nachfolgenden VIER IMPULSE sollen nicht nur als Inspirationsquelle zum Andersdenken dienen, sondern auch neugierig darauf machen, den unentdeckten Schätzen des Zuhörens wieder ein wenig näher zu kommen und anderen die Erfahrung zu schenken, erfahren zu werden.

  • Impuls #1 – NEGATIVES KÖNNEN
    Wer kennt nicht das übermächtige Gefühl, anderer Meinung zu sein, dem Bedürfnis der Gegenposition nachzugeben und sich mit seiner Perspektive einzubringen. In Ungewissheit oder Zweifel zu verweilen, ohne höchst erregt nach Grund und Ursache zu bohren, das erfordert NEGATIVES KÖNNEN. Eben nicht dem ersten Impuls zu folgen und stattdessen empathisch schweigen, Grauzonen tolerieren, der eigenen Engstirnigkeit die Stirn bieten und die Wirklichkeit des Anderen als neuen Blickwinkel anerkennen. Es ist ganz gewiss eine reflexhafte und eingeübte Neigung des Verstandes, die uns die offenkundige Illusion verschafft, im bereits Gehörten alles zu verstehen oder vermeintlich bereits alles wissen zu können. Ohne es zu merken, hören wir nur noch selektiv zu und konzentrieren uns auf das, was an vorgefertigter Vorstellung in unserer Welt passend wirkt. Negatives Können ist die Anerkennung und Akzeptanz von Unterschieden. Es eröffnet Möglichkeitsräume und verschafft dem wahren Könner die meist ungenutzte Chance, sich seiner eigenen Ungeduld bewusst zu werden und Raum für (noch) Unerfahrenes zu lassen.
  • IMPULS #2 – GEISTIGE GROSSZÜGIGKEIT
    Gerade in strittigen Situationen, wenn die Amygdala (Alarmsystem des Menschen) auf Hochtouren kommt, gilt es in besonderem Maße auf Anzeichen zu achten, die die Möglichkeit einschließen, dass man in seiner Meinung falsch liegt.

    Zuhören bedeutet nicht und impliziert auch nie, dass man jemandem zustimmt. Es bedeutet vielmehr, dass man den Standpunkt seines Gegenübers akzeptiert und womöglich etwas daraus lernen kann. Es bedeutet weiterhin, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass es mehrere Wahrheiten geben kann, und dabei zu begreifen, dass sie alle zusammen zu einer umfassenderen Wirklichkeit führen können.“ Es ist daher zweifelsohne heilsam, sich dem Versuch auszuliefern, in Diskussionen innezuhalten, geistig und vielleicht sogar körperlich, großzügig einen halben Schritt zurückzutreten, um auf diese Weise Raum für den wertvollen Unterschied geben – eine Win-win-Situation.

  • IMPULS #3 – CLOSENESS-COMMUNICATION-BIAS
    Dieser beschreibt die verbreitete Illusion, dass sich in einer Beziehung die Kommunikation und das Verständnis füreinander mit zunehmender Nähe verbessert. Nicht selten ist das Gegenteil der Fall. So magisch Intimität und Vertrautheit sein können, sie machen uns mit der Zeit nur allzu selbstgefällig. Menschen in andauernden Beziehungen (Partner- oder Kundschaften) verfallen dem Muster, die Neugierde auf den anderen schrittweise zu verlieren. Das muss nicht mal auf unfreundliche Weise passieren. Vielmehr dominiert die irrtümliche Überzeugung, dass man einander bereits besser kennt. Warum sollte ich neugierig sein? Ich weiß, wie er oder sie reagieren wird. Es lohnt sich also, der Kraft der Neugierde wieder mehr Beachtung zu schenken und Fragen zu stellen. Jede Frage stellt eine Verbindung her.
  • IMPULS #4 – ICH WÜRDE GERNE DARÜBER NACHDENKEN 
    Auf den ersten Blick wirkt dieser Satz unscheinbar und zeugt in seinem konjunktivischen Antlitz von wenig Entschlossenheit. Bei genauerem Hinsehen offenbart er Tiefe, Eleganz und Kraft. „Ich würde gerne darüber nachdenken“ teilt dem Gegenüber mit, dass man wertschätzt, was gesagt wurde, indem man dem Gesagten Raum zum Ankommen und Wirken schenkt. Gleichzeitig würdigt man den Teil in sich selbst, der noch unentschlossen ist und noch Zeit zur Verarbeitung braucht.

Was sind eure Gedanken dazu? Bevor ihr einen Kommentar formuliert, fühlt euch eingeladen, nicht dem ersten Impuls schlagfertig (= Schlag und fertig!) zu folgen, sondern in Denkerpose innezuhalten, nachzudenken und abzuwarten, ob der erschaffene Denkraum weitere Möglichkeiten bietet. Hinweis: Wer von der Kunst des Zuhörens nicht genug bekommen hat, findet in unserer Entwicklungsreise PERSÖNLICHKEIT TRIFFT ungeahnte Inspirationen und Impulse der etwas anderen Art.

Literaturquellen: Murphy, K. (2021). Immer auf Sendung, nie auf Empfang. Warum wir einander endlich zuhören müssen.  Mosaik.

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