„Nicht die Vielfalt strengt uns an, sondern, dass wir nicht gelernt haben, mit ihr umzugehen.“ Wolf Lotter
Eine inspirierende Geschichte, die auf wahren Begebenheiten fußt, entführt uns ins Jahr 1906. In diesem Jahr war Francis Galton, britischer Gelehrter, bereits 85 Jahre alt, was ihn jedoch nicht davon abhielt, seiner Wissbegier für Forschungen zur Statistik mit kindlicher Freude nachzugehen. Galtons Ziel war eine Regionalmesse, zu der sich Bauern und Stadtbewohner einfanden, um Nutzvieh zu taxieren. Sein besonderes Augenmerk verdiente sich an jenem Herbsttag ein Wettbewerb, bei dem es um die Gewichtsbeurteilung eines massigen Ochsen ging. Dieser, auf einer großen Bühne für alle sichtbar zur Schau gestellt, sollte von den circa 800 interessierten Begutachtern nach seinem Gewicht geschätzt werden.
Francis Galton war ursprünglich an diesem Tag angetreten, um mithilfe der Daten zu ergründen, wozu ein Durchschnittswähler imstande sein würde. Seiner Erwartung nach ging er zweifellos davon aus, dass der mittlere Schätzwert (= die Summe der Schätzwerte geteilt durch die Anzahl der abstimmenden Personen) weit neben dem Realgewicht des Ochsen liegen würde. Diese Annahme erschien bei dem Mix der Stichprobe durchaus plausibel, wenn man sich vor Augen hält, dass darin einige Experten wie Landwirte oder Metzger, aber eben auch eine Vielzahl an fachlich Unkundigen steckten. Der erfahrene Gelehrte hatte sich jedoch in seiner ursprünglichen Annahme geirrt und das, um es in der Wissenschaftssprache auszudrücken, signifikant. Während die Messebesucher das Gewicht des Ochsen auf 1197 (englische) Pfund geschätzt hatten, lag das tatsächliche Gewicht bei genau 1198(!) Pfund.
Mit anderen Worten: das Urteil der Gruppe traf nahezu ins Schwarze.
Im Kern zeigt diese wahre Erzählung, dass Gruppen unter den richtigen Umständen bemerkenswert intelligent sein können – und oft klüger als die vermeintlich Gescheitesten in ihrer Mitte. Auch oder vielleicht gerade. weil eine Vielzahl der Individuen weniger fachliche Tiefe vorzuweisen hatte, sorgte die kollektive Intelligenz für ein geniales Ergebnis. Welche Umstände sind die richtigen? Und was ist erforderlich, um die Weisheit der Vielen zu entfesseln und neuen, ungeahnten Kräften eine Bühne zu bieten? Nachfolgend sollen vier Stellhebel als Inspirationsquelle dienen:
- Stellhebel #1: Vergessene Hybris – Napoleon ist out und die Zeiten, in denen man auf dem Feldherrenhügel stand, um mit der allmächtigen Weisheit entscheidend zu wirken, sind vorbei: „Der Robinson Crusoe unserer Tage muss nicht alles können. Er ist umgeben von Könnern.“ (Lotter, 2020, S. 26)
- Stellhebel #2: Vertikale Vielfalt – gerne umgibt man sich mit Gleichgesinnten. Das ist erstmal menschlich und folgt einer Routine. Um Komplexität jedoch zu erschließen, bedarf es einer musterbrechenden Horizonterweiterung. Neue Zusammenhänge werden nur dann hergestellt, wenn die Perspektiven einen vertikalen Mix ermöglichen. Silodenken ist noch immer Kulturgut und verschließt die bahnbrechenden Möglichkeiten, die Netzwerke zu bieten hätten Die Fähigkeit zum Durchblick gelingt uns, wo wir Unterschieden Raum geben und einen Rahmen schaffen, der Vielfalt als Geschenk und nicht als Risiko anerkennt.
- Stellhebel #3: Kindliche Neugierde – immer auf Sendung und nie wirklich auf Empfang zu sein, beschreibt schmerzlich, wo unsere Aufmerksamkeit zumeist liegt. Nur, wer offen ist für die Gedanken, Meinungen und Sichtweisen seines Gegenübers wird in neue Denkwelten vorstoßen und Raum für Innovation bereitstellen. Zuhören bedeutet oftmals, den Stillen eine Stimme zu geben und sein eigenes Selbst nach hinten zu stellen. Zuhören ist der Motor für Einfallsreichtum, Neugierde ist der Katalysator für Wachstum
- Stellhebel #4: Katalytische Partizipation – echte Zusammenhänge werden überall dort hergestellt, wo Verbindungen hergestellt werden, die es im wahrsten Sinne des Wortes „leicht möglich“ machen, Wissen zu teilen. In diesem Zusammenhang versteht sich Facilitation, “the art of unlocking the power of a group through dialogue and the pursuit of clarity, engaging active participation and embracing the richness ofdiverse perspectives” als Teilchenbeschleuniger in wandelresistenten Umfeldern. Wort sei Dank – eine inspirierende Analogie soll den letzten Akkord spielen:
Man nehme eine Portion Stickstoff und einen großzügigen Schuss Wasserstoff, zwei der häufigsten Elemente unserer Erde, gebe beides in ein Gefäß, schließe den Deckel. Was passiert? Nichts. Es passiert gar nichts. Sobald man allerdings Eisen in die Gleichung aufnimmt, erhält man Ammoniak, einen wichtigen Basisstoff für Dünger, Plastik oder Reinigungsmittel. In der Chemie wird Eisen alsKatalysator definiert. Es ermöglicht den beiden Elementen auf faszinierende Weise, eine werthaltige Verbindung miteinander einzugehen, die vorher nicht möglich war.
Literaturquellen: Lotter, W. (2020). Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen.“ KörberSurowiecki, J. (2005). Die Weisheit der Vielen. Bertelsmann